Wie lange kann ich professionell MusikerIn sein mit einem Hörverlust?

Diese Frage beschäftigt viele meiner Kundinnen und Kunden. Die gute Nachricht lautet: solange du damit umgehen lernst 😊 Waaaaas? Werden Sie jetzt innerlich schockiert protestieren. Ein Hörverlust ist doch der Genickbruch eines/r jeden Musikschaffenden! Nein meinE liebeR LeserIn, das ist nicht wahr.

Uff. Erstmal sacken lassen.

Der Hörverlust wird oft als Damoklesschwert der musikalischen ProfessionalistInnen gesehen. Es gibt tragische Beispiele, die zu dieser Furcht beigetragen haben. Zum Beispiel Ludwig van Beethoven. Der war eine arme Sau. Wirklich wahr. Zu seiner Zeit konnte man nämlich seine Hörstörung weder richtig diagnostizieren noch therapieren. Und Hörgeräte gab es damals auch keine gescheiten. Hochleistungscomputer, Wunder der Technik, wie wir sie heute zur Verfügung haben gibt es erst seit ca. einer geschlagenen Dekade. Und so war er mehr oder weniger seinem Schicksal ausgeliefert und ist dadurch nachvollziehbar in bittere Depressionen verfallen. Seine Musikalität war aber weiterhin genial, und das ist schon mal ein Punkt, der uns zum Nachdenken bringen sollte.

Und hey: die Zeiten ohne moderne Chirurgie und Hörgeräte sind vorbei! Definitiv! Wer heute noch so auf Hörverlust reagiert hat entweder im Musikgeschichte-Unterricht zu gut aufgepasst oder ist medizintechnisch irgendwo mindestens im letzten Jahrtausend stecken geblieben.

Nichtsdestotrotz hält sich dieser Glaubenssatz in der heutigen Musikkultur stark, obwohl sie berufsbedingt von „derrischen“ (Wienerischer Ausdruck für Mensch mit Hörbeeinträchtigung) übersät ist. Ihr solltet eure Scham diesbezüglich mal überwinden, ich lege es euch wirklich ans Herz. Heutige Hörhilfen sind tatsächlich kleine Wunderwerke der Technik. Sie helfen Details in der Musik zu hören, die du schon vergessen hast, weil du sie so lange nicht mehr gehört hast. Sie lassen dich wieder tiefer eintauchen in musikalische Kommunikation. Es macht einfach mehr Spaß, wenn du nicht ständig darauf aufpassen musst, ob du alles gehört hast, was gerade vor sich geht. Sie entspannen dich, weil dein Instrument wieder schöner klingt, sie erleichtern dir ganz allgemein das Leben. Sie schaffen mehr soziale Nähe, weil Sprachverständlichkeit als erstes, noch vor der Musik, vom Hörverlust betroffen ist. Sie füllen den gehörten Lückentext auf und sorgen wieder für ganzheitliches, sinnliches Erleben.

Einer sprachlichen Aufklärung bedarf es denn schon noch: Beethoven war nicht taub. Er verlor zwar immer mehr an Hörfähigkeit, und es ist nicht auszuschließen, dass er am Ende seines Lebens vielleicht sogar ganz ertaubt ist. Beweise gibt es dafür allerdings auch nicht. Sogar die meisten Gehörlosen haben ein kleines Resthörvermögen (mit dem sie allerdings nicht mehr viel anfangen können). Das mittelhochdeutsche Wort „toup“ bedeutete, ähnlich wie das heutige „deaf“ im Englischen, einfach nur schwerhörig. Oder auch schwer von Begriff. Im Holländischen gibt es die Abwandlung zu „doof“ dazu, weil natürlich jemand, der oder die nicht richtig versteht, auch merkwürdige Rückmeldungen gibt. Das wird dann der Einfachheit halber als „deppert“ (Wienerischer Ausdruck für doof, verwirrt) eingestuft, weil man die Hörbeeinträchtigung ja niemandem ansieht. Beethoven war also „nur“ laut Mittelhochdeutschem Sprachgebrauch taub. In Wahrheit litt er unter einen mittelgradigen bis starken Schwerhörigkeit, die man heute auch operieren und/oder zusätzlich mit Hörgeräten hätte korrigieren können. Sonst hätte er ja auch gar nicht mehr sein Klavier über die Knochenleitung hören können, indem er das eine Ende von einem Metallstab zwischen die Zähne klemmte und das andere auf den Rahmen seines Klavieres presste. Schon mal darüber nachgedacht?

P.s.: Beethoven hat trotz „Taubheit“ in seiner 6. Sinfonie „Pastorale“ Vogelstimmen niedergeschrieben (siehe Notenausschnitt im Titelbild dieses Blog-Artikels). Dass diese so gut es geht dem akustischen Vorbild aus der Natur entsprechen, haben die Kollegen Prof. Christoph Reuter und Carlos Albrecht von der Musikwisssenschaft Wien belegt:

„Gerade wie hier in der Partitur“? Beethovens Vogelstimmen aus op. 68 unter die klangliche Lupe genommen

(…soll mir noch einmal jemand weismachen wollen, dass das ohne Hörvermögen gelingen kann…)

P.p.s.: Den Mozart-Effekt gibt es nicht. Schon gewusst? Hier gibt es ein Bild zum Schmunzeln und zwei Links zu weiteren Blogartikeln.